Story

Als sie Godfather Theme hinter sich gebracht hatten, fiel einiges an Anspannung von ihr ab. Sie hatte sich die letzte Stunde versucht, einzig und allein auf dieses Stück zu fokussieren und alles andere auszublenden. Scheinbar hatte es funktioniert, denn Mr. Abrams war mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Doch Nemis merkte einmal mehr, dass es beim Gitarrespielen komplett anders war, als wenn sie sang. Während sie ihren Kopf beim Singen einfach ausschalten konnte und nur ihre Gefühle kanalisierte, kostete die Gitarre sie enorme Konzentration und jedes aufkommende Gefühl erschien ihr als Störfaktor und potentieller Stolperstein. Durch dieses Abschalten ihres Herzens gelang ihr zumindest inzwischen ein relativ präzises Spielen.
Nach ihrem Auftritt sank sie jedoch erschöpft auf ihren Stuhl und fühlte sich, als hätte sie gerade drei Stunden eine Matheklausur geschrieben.
Quino begann eine leise Unterhaltung, während der Lehrer seine üblichen fünf Minuten auslebte. Nemis betrachtete ihren Mitschüler, der nach ihrem Auftritt irgendwie sogar lebendiger wirkte als vorher. Scheinbar war es bei den beiden genau umgedreht: Nemis kostete die Gitarre Kraft, Quino hingegen gab sie Kraft. Diese Feststellung lief in ihrem Hinterkopf ab, als er auf den Contest zu sprechen kam. Wie sollte sie es nur schaffen, diese Widersprüche zu vereinen und mit gefühlvollem Gesang und qualitativem Gitarrenspiel gleichzeitig aufzutreten? Sie ließ ihren Kopf in die Hände vor sich fallen und ihre blonden Locken schwangen dabei chaotisch nach vorne.
Diese Geste wäre wahrscheinlich schon Antwort genug gewesen, trotzdem murmelte sie mit leicht gequälter Stimme: "Vielleicht war das mit dem Contest ne blöde Idee..."
Jetzt gerade sah sie bloß diesen unüberwindbar scheinenden Berg vor sich und von ihrer Begeisterung, mit der sie ihm vor Kurzem noch von ihrem Plan erzählt hatte, war keine Spur zu sehen. Sie zweifelte daran, dem gewachsen zu sein. Als sie diesen Einfall ursprünglich gehabt hatte, war ja auch nie davon die Rede gewesen, dass sie den Gitarrenpart übernehmen würde.
Mr. Abrams besann sich wieder auf den eigentlichen Stoff und war einen kritischen Blick in Nemis und Quinos Richtung, der sie wohl zum Aufpassen motivieren sollte. Somit war die kleine Unterhaltung auch schon wieder vorbei.
Der restliche Unterricht ging vorbei, ohne dass Nemis danach wirklich hätte sagen können, was eigentlich passiert war. Nachdem der Lehrer die Stunde beendete, stand sie auf und schulterte ihre Tasche. Noch immer wirkte sie anteilnahmslos und in Gedanken versunken.

Quinos Brust hatte sich zusammen gezogen, als Nemis ihren Unmut kundgab. Dieses beklemmende Gefühl ist er den Rest des Unterrichts auch nicht losgeworden. Er schaute sie manchmal verstohlen an.
Ein Seufzer entglitt ihm und sein Schuldbewusstsein stieg. Aber er konnte einfach nicht an diesem Contest teilnehmen. Sein Vater würde zum Berserker werden. Nach all den Malen in denen er bereits erwischt wurde... Außerdem konnte Quino den Stress wirklich nicht gebrauchen. Er ertrug die Gesellschaft seines Vaters ja jetzt schon kaum.
Nemis hatte sich gerade ihre Tasche genommen, als Quino zu ihr rüber ging. "Ist irgendwas passiert?", fragte er und glaubte, sie hätte irgendetwas erlebt, dass ihr die Motivation entzog. "Letztens noch warst du voller Elan..." Er lächelte und hoffte sie würde sich ihm öffnen.

Sie sah seitlich zu ihm hoch, ohne sich richtig zu ihm zu drehen.
"Du würdest das nicht verstehen, Maestro. Dein Herz ist eins mit der Gitarre. Ich muss mein Herz wegsperren, wenn ich gut spielen will. Wie soll das jemals funktionieren?"

"Hey, hey...", machte Quino und war selbst darüber erstaunt, wie liebevoll er klingen konnte.
Er legte die Hände auf ihre Schultern. "Den Drang zum Drama hast du schon. Fehlt nur noch ein bisschen Anleitung um das optimal..." Quino zog die Hände zurück und formte Anführungszeichen mit den Fingern. "... Einzubetten."
Er stupste sie an. "Und dafür bin ich doch da, vergessen?"

Er hatte sich ihre volle Aufmerksamkeit durch seine freundschaftlichen Gesten und Worte erkämpft. Ihm zugewandt, zögerte sie trotzdem einen Moment zu antworten.
"Wer sagt, dass ich mich darauf verlassen kann..."
Das Bild von Janis, wie sie kokett mit ihm umsprang, blitzte in ihren Gedanken auf. Selbst wenn er es aufrichtig meinte und sie wirklich unterstützen wollte - was ja an sich noch keine Garantie für eine Erfolg war - scheinbar ließ er sich schnell von einer gewissen anderen Person beeinflussen. Wenn diese Schreckschraube sich in den Kopf setzen würde, Quino davon abzuhalten, ihr zu helfen, würde es ihr garantiert gelingen. Daran glaube Nemis.

Er verstand nicht, warum sie so dachte. Mit keinem Wort hatte er angedeutet, nicht mehr dabei zu sein, aber gleichzeitig wusste er, dass Nemis nun etwas anderes brauchte als dumme Erklärungen.
"Hast du jetzt was vor? Wenn nicht, dann hast du es jetzt." Während er sprach hatte er sich Richtung Tür bewegt. Nemis hatte genug Gitarre für einen Tag gehabt.
Im Türrahmen drehte er sich zu ihr um. "Kommst du?"

Der plötzliche Themenumschwung verwunderte das missmutige Mädchen, aber die Art und Weise, wie er es sagte, ließ sie spüren, dass er einen Plan hatte.
"Hat das, was du vorhast, mit meiner Gitarre zu tun? Wenn ja, bin ich raus", sie hob abwehrend die Hände und bewegte sich vorerst nicht um Fleck. Auf Nachhilfe hatte sie im Moment wirklich keine Lust.

Er lachte leise auf. "Nein.. . Hast du Hunger?", zog er die Augenbrauen hoch und lehnte sich nun mit locker verschränkten Armen gegen den Türrahmen.

Auch wenn ihr Gesicht noch immer nach sieben Tagen Regenwetter aussah, blitzte nun etwas in ihren Augen auf - Freude auf Essen. Sie rückte noch einmal den Umhängegurt ihrer Tasche zurecht und setzte sich dann zielstrebig in Bewegung.
"Ok, überzeugt"

Quino nutzte sein Handy, um Ihnen ein Taxi zu rufen. Er wollte mit ihr in die Stadt fahren und hoffte sie würde den Ort, zudem er sie bringen wollte, noch nicht kennen.
Als sie die Korridore lang liefen, die Treppen runter und wieder durch ein paar Gänge, waren sie auch endlich an der frischen Luft.
Quinos Eltern waren wohlhabend und er hatte eine Kreditkarte... Die er durchaus nutzen durfte.
Sie hatten etwas warten müssen, aber das Taxi fuhr nicht viel später auf den Platz vor der Akademie. Qunio öffnete die Autotür. "Milady.", sagte er und wartete darauf, dass sie einstieg. Das Coole an britischen Taxis war, dass man hinten trotzdem sich gegenüber saß.

"My lord", sie machte einen kleinen Knicks und stieg dann in das Taxi ein.
Während das Auto losfuhr, durchzuckte ein Schmunzeln ihre Gesichtszüge. Sie war tatsächlich etwas gespannt und die Ablenkung begann jetzt schon Wirkung zu zeigen.
"Ok wo geht's hin? Seit ich hier bin, hab ich noch kaum was anderes als diese verkrampfte Akademie gesehen."

Sehr gut, dachte sich Quino im Stillen und sagte zum Taxifahrer, mit dem er Rücken zu Rücken saß, dass er ins Finanzviertel fahren soll.
Sie fuhren ein bisschen durchs Grün, ehe sie die große Stadt erreichten. Zwar war der Ort nicht ganz so cool, wie Nemis sich vielleicht vorstellte, aber Quino liebte ihn. Und er war unter Jugendlichen nicht ganz bekannt.
Es dämmerte bereits. Man merkte, dass der Herbst eingekehrt war und die Tage immer kürzer wurden. Das Taxi fuhr sie in die Betonlandschaft, umzingelt von Wolkenkratzern und kleineren beglasten Hochhäusern. Die meisten hatten inzwischen Feierabend und fuhren aus dem Viertel raus. "Hier können Sie halten.", sagte Quino und steckte dem Taxifahrer die Kreditkarte zu. "Geht auf den Mann ohne Geschmack.", zwinkerte Quino ihr zu und meinte damit seinen Vater.
Sie stiegen aus, Quino hielt ihr erneut die Tür auf und machte dasselbe wie eben. Hier wo sie standen war nichts zu sehen. Die moderne Architektur, die sie umgab, wurde vom goldenen Licht der Abendsonne eingehüllt.
Quino ging voraus, Nemis folgte ihm. Sie gingen über einen Flächen, grauen Platz, der einen zackigrn Brunnen beherbergte. Quino ging die Treppen runter, dabei wackelte sein Rucksack auf und ab und hüpfte über die letzten drei Stufen auf den Boden. Vor ihnen tauchten Bäume auf, sie waren durch Seile miteinander verbunden und schwach leuchtende Lampions hingen an ihnen und füllten die Umgebung mit einer magischen Aura.
Außerdem funkelten sie schön in das Silber und Metall der Foodtrucks. Verschiedene Düfte stiegen an ihre Nasen. Herzhaftes Beef, Curry und Kokosnuss, frisches Brot, süßes Karamel und alles vermischt in der Luft dieses Ortes. Hier und da waren Bänke aus Stein, manche hatten sogar eine Lehne. "Hier gibt es alles was dein Magen sich wünscht.", grinste Quino, drehte sich um und breitete die Arme aus, sodass der Anblick der Foodtrucks unter den Lampions im Grün, hinter ihm erstrahlte. Musik abseits des Mainstreams ertönte und es tummelten sich hier und da ein paar Anzugtrager, die sich nach der Arbeit noch etwas zu Essen gönnten. Zur Mittagszeits war es übertrieben voll von ihnen und nachts... "Am Tag sind die hier." Er deutete auf die Büromenschen. "Aber nachts, werden dort oben die größten Partys gefeiert." Quino schaute nach oben auf die legendären Dachterrasse der hiesigen Partyszene. "Und den foodtrucks, denen geht's gut hier, nehme ich an.", lachte Quino und inspiziert Nemis'Gesicht. Hatte er sie enttäuscht? "Sorry, wenn ich etwas dick aufgetragen habe." Er tätschelte sich den Hinterkopf.

Nemis sog die Atmosphäre in sich auf. All die Gerüche, das Licht, die Musik.
"Nein, es ist perfekt", antwortete sie gerade so laut, dass er es auf die Entfernung noch hören konnte und ließ ihren Blick begeistert herumschweifen.
"Woah, ich weiß gar nicht, was ich zuerst essen soll!", platzte es dann gerade zu euphorisch aus ihr heraus und es war nicht das erste mal, dass sie im Gehen spontan die Richtung geändert hatte.
Dann blieb sie plötzlich stehen und sah ihn unverwandt an.
"Ok, worauf hast du Lust?"

"Da ich so gut wie alles kenne, entscheide du. Bitte." Er grinste schräg und reihte sich wieder neben sie ein. "Hättest du Lust auf was exotisches? Oder lieber was bewährtes, wie Burger?" Quino erfreute sich daran, dass Nemis ihren Kummer langsam vergaß.

Letztlich hatte sie sich doch noch entscheiden können und hielt stolz ihren Burger mit pulled pork in der Hand. Die beiden hatten sich zum Essen auf eine der Steinbänke gesetzt, aber anstatt die Sitzfläche für ihren eigentlichen Zweck zu nutzen, hatte sie dort ihre Füße abgestellt und saß stattdessen auf der Rückenlehne.
Die ersten Bissen schien sie sich ganz im Geschmack zu verlieren und seufzte nur kurz einmal selig über das kulinarische Erlebnis an ihrem Gaumen.
Dann jedoch sah sie zu ihrem Freund neben sich.
"Also...was läuft da jetzt eigentlich mit dieser Tyrannin? Vielleicht hab ich dich unterschätzt und du bist in Wahrheit so ein Womanizer von der ganz miesen Sorte. Erst spielst du den unschuldigen Mitschüler von nebenan und dann BÄM", sie stampfte mit ihren Füßen auf, "wieder eine Tussi rumgekriegt."
Ihre Anschuldigungen waren natürlich nicht ernst gemeint, aber es war ihr Weg, das Thema,das sie so brennend interessierte, ins Laufen zu bringen.
Sie biss erneut in ihren Burger und nuschelte dann mit vollem Mund: "Natürlich ist es da das einzig Logische, mit so einem zwielichtigem Typen in ein Taxi zu steigen und ganz weit wegzufahren."
Sie nahm sich mit trockenem Humor selbst auf den Arm.

Er musste die ganze Zeit über kauend lachen und versuchte dabei seinen Mund nicht so weit zu öffnen. Nemis war ein wunderbarer Mensch. Und umso mehr er sie kennenlernte, desto mehr bewies sie ihn das.
"Du kennst das sicherlich. Berufstätige Eltern bilden Fahrgemeinschaften und Janis und ich lernten uns in der sechsten Klasse oder so kennen, als sich unsere Mutter gerade anfreundeten und ebenfalls so eine Fahrgemeinschaft gründeten. Wir sahen uns zwei Jahre beinahe täglich, ehe wir in die Akademie gezogen sind, aber... wir schenkten uns selten großartige Beachtung und ich glaube Janis steht einfach drauf, mich manchmal in Verlegenheit zu bringen." Quino war beeindruckt wie schnell Nemis essen konnte und versuchte insgeheim mitzuhalten. Es war eine Frage der Ehre aller jungen Männer.
" Sie ist ein Biest, ich weiß, aber lieber bin ich mit ihr befreundet, als verfeindet."

Sie ging bei seiner Erklärung gedanklich mit und nickte zwischendurch. Bis hier hin alles nachvollziehbar. Doch bei seinem letzten Satz musste sie ein Veto einlegen. Sie schluckte gerade noch ihren Bissen runter, bevor sie anfing zu sprechen.
"Ist das dein Ernst? Du lässt dich für ihre kranken Spielchen missbrauchen, weil du kein Bock auf Stress mit ihr hast?"
Es klang zwar schonungslos und irgendwie vorwurfsvoll, war aber weit entfernt von einem Streitgespräch. Gerade diese Offenheit bewies, dass sie bei ihm ganz sie selbst sein konnte.

"Sie kann sehr diabolisch sein. Das ist quasi Selbstverteidigung.", erklärte er. "Außerdem glaube ich, hat sie einen weichen Kern, den sie gern überspielt. Aber im Endeffekt interessiere ich mich nicht sonderlich für sie. Wenn ich in der Schule bin, denk ich mir manchmal: Teenager, hab ich recht?, so an mich selbst." Er schmunzelte und zog die Augenbrauen über der Nasenwurzel hoch.
"Am liebsten bin ich für mich oder mit den Engsten. Du hast großes Potential dazu zu zählen, ich habe noch nie einen Überflieger wie dich erlebt.", plauderte er vor sich, weil er zu sehr damit beschäftigt war, den Burger beisammen zu halten und nicht allzu widerlich beim Essen auszusehen.
Als er beobachtete wie Soße an Nemis' Kinn runterlief, glaubte er sein Herz bliebe stehen, süß, er reichte ihr eine Serviette und entspannte sich ein bisschen. Er biss herzhaft zu und diesmal war es ihm gleich, ob alles bei Seite fiel und runterlief.
"Ich genieße die Gesellschaft von Menschen, die ebenso gern essen wie ich. Nein,die genauso genießen können..." Er spitzte die Finger, wie es ein Italiener tun würde.
Und ihm fiel da auch wieder etwas ein.
"Apropos, fand ich den Mafiosiverschnitt auch nicht besonders sympathisch. Er hatte sich nicht einmal für deinen Namen interessiert.", erinnerte er sie. Oder machte er sie erst darauf aufmerksam? Quino hatte das Gefühl, er hätte etwas zuviel gesagt und wollte am liebsten vom Thema ablenken. Ließ es dann aber doch und aß.

Es kam ihr so vor, als witterte sie da eine Spur von Verständnis bei ihm für Janis, oder sogar einen Funken Sympathie?
Nemis seufzte. Dieser Kerl war also echt zu gut für diese Welt. Sie sah wieder nach vorne und genoss es, wie die Lichter dieses Platzes miteinander verschwammen und die Schatten der Menschen aussahen, als würden sie tanzen.
Er schmeichelte ihr auf eine so pure Art und Weise, dass sie leise lachen musste. Überflieger? Was sollte sie darauf antworten? Aber Essen genießen, ja, das traf definitiv zu.
Als sie gerade etwas erwidern wollte, sprach er Vincenzo an.
"Zwei schräge Fremde nicht nach ihren Namen zu fragen oder ein unsicheres Mädchen als ewig 'scheiße aussehend' zu bezeichnen, sind zwei verschiedene Dinge...", verglich sie Janis mit dem Italiener.
"Ich glaub, er macht sich nicht viel aus Konventionen und davon hat diese Schule viel zu viele...Würdest du ihn nicht auch gern mal spielen hören?"
Den letzten Satz wisperte sie ihm verschwörerisch zu und lehnte sich dabei schräg zu ihm runter.

"Oh, krass, dass hat sie gesagt?" Quino war wirklich schockiert. "Heftig...", murmelte er. Klar, wenn sie zu ihm nett war, konnte er nicht wissen, was so hinter seinem Rücken ablief. Mehr sagte er nicht dazu. Aber insgeheim fragte er sich, was Nemis darauf wohl entgegnet haben könnte, dass Ava im nächsten AUúgenblick schon wieder so fröhlich wirkte. Da merkte er, dass er Nemis wohl auch nicht gern zur Feindin gehabt hätte. Die Wölfin und der Tiger. Ihm schauderte es. Nie wieder wollte er so zwischen ihnen stehen, wie heute früh im Gang.
"Ehh, was spielte er noch gleich? Cello? Geige? La-ame." Quino war fertig und steckte sein Müll zusammen und stand auf und schmiss es in den Müll, der unweit von ihnen stand.

"Ja, Geige. Kennst du den Teufelsgeiger? Wenn der loslegt, hast du das Gefühl, Heavy Metal zu hören! Man kann aus jedem Instrument viel rausholen...Ich wüsste gerne, ob er was Musik angeht auch so unkonventionell drauf ist."
Für einen Moment ließ Nemis die kurze Begegnung mit diesem Menschen noch einmal Revue passieren. Die Musik, die von weiter weg zu hören war, hatte sich geändert und war nun rhythmischer.
Als sie bemerkte, dass er auch fertig gegessen hatte, drückte sie sich von der Lehne ab und sprang elegant auf den Boden.
"Weißt du, was mir an dieser Akademie fehlt?" Sie drehte sich schwungvoll zu ihm um, streckte ihm ihre Hand entgegen und lächelte breit.
"Tanzen."

Innerlich äffte er Nemis' Schwärmerei für Streichinstrumente nach. Dann sollte sie doch mit Vincenzo essen gehen. Pah! Unkoventionell... als ob das gleich heißt, das sei besser als Altbewährtes.
Quino lügte sich etwas selbst an. Er liebte die progressive Musik der 70er Jahre, unkonventionell war voll sein Ding.
Als Nemis sich drehte, ahnte Quino schon nichts Gutes, aber schlürfte trotzdem weiterhin die Limo aus der transpirierenden Dose in seiner Hand.
Als sie ihm jedoch ihre Hand entgegen streckte und sagte: "Tanzen.", hustete er schwer und klopfte sich auf die Brust. "Sorry.", krächzte er.
Tanzen? Hier? Mit ihr? Mochte sie ihn etwa auch? Vielleicht ja... Oder nicht? Was war sie für eine Person? In welche Beziehung standen sie zueinander, würde er jetzt zugreifen? War Quino in der Friendzone? War er mehr? Er konnte nicht mehr klar denken, doch die Angst, dass sie ihre Hand zurückzog und er nie wieder die Möglichkeit hätte, diese zu ergreifen, war viel größer, als die Panik über ihr Verhältnis zueinander. Deshalb stand Quino auf, griff nach ihrer Hand und legte seine andere Hand knapp über ihre Hüfte. "Sei gewarnt, ich bin tatsächlich auch ein Maestro im Tanzen. Zumindest in zwei, drei Tänzen." Quino zog bei letzterem die Schultern kurz hoch.
Er lächelte zu ihr hinunter und konnte beobachten wie die Lichter der Laternen sich in ihren Augen spiegelten.

Als er sich verschluckte, verlor Nemis kurz die Körperspannung, ließ den Kopf amüsiert nach unten hängen und krümmte sich leicht, während sie lachte. Sie spürte, dass er ihre Hand ergriff und richtete sich wieder auf, während er souverän seine Tanzposition einnahm.
"Achja?", hakte sie herausfordernd mit schiefem Grinsen und einseitig hochgezogener Augenbraue nach.
"Dann begegnen wir uns endlich mal in etwas auf Augenhöhe", sie machte eine Pause, sah kurz zur Seite und wieder zu ihm zurück, "abgesehen vom Essen natürlich. Ich hatte 5 Jahre lang Tanzunterricht, aber lateinamerikanische Tänze haben wir dabei nur ganz kurz mal angeschnitten, also freu ich mich, von dir zu lernen, Maestro."
Die zierliche Person neigte ihren Kopf und deutete eine respektvolle Verbeugung an. Sie konnte an ihrer Taille spüren, dass er seine Finger noch einmal minimal verrückte. Dann gab er ihr einen Startimpuls mit seiner führenden Hand, die ihre festhielt, und sie machten den ersten Schritt.

Quino umfasste sie, wirbelte sie einmal im Kreis, ehe seine Füße die typischen Schritte nachahmten, die er so oft schon getanzt hatte. Wenn Nemis fünf Jahre Tanzunterricht gehabt hatte, musste sie mithalten können. Ihre selbstbewusste Haltung zeugte davon.
Quino ging einen Schritt vor, wieder in die Ausgangsposition des Stands und einen Schritt rückwärts – Der Salsastandartschritt, Nemis konnte ihn sofort.
„Fantastisch.“, lächelte er und strahlte dabei eine Freude aus, als hätte er es eben selbst gelernt. Quino schaute runter und beobachtete, wie Nemis‘ Hüfte auf und ab schwang. Sie hatte wirklich Rhythmus im Blut. Das sollte ja nicht so häufig bei blonden Frauen vorkommen.
Er drehte sie erneut, dabei hüpften ihre Locken auf und ab. „Wollen wir dich mal testen?“, fragte er, als sie gerade wieder in die Ausgangsposition kamen. Er wendete denselben Schritt an, nur diesmal machte er ihn seitwärts.
Quino spürte wie die Berührung ihrer beiden Hände immer wärmer wurde. Er fürchtete sich zu schwitzen und sie dadurch anzuekeln, versuchte aber nicht weiter daran zu denken. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals und er wusste nicht so recht, ob es an der körperlichen Anstrengung lag oder etwas anderem...

Schon bei der Eröffnung spürte Nemis die Endorphine durch ihren Körper wirbeln. Es kostete sie einige Konzentration, wieder rein zu kommen, aber ihr Lehrer machte es ihr für den Anfang leicht und ein bisschen was wusste sie ja noch.
Als sie sich dann etwas eingetanzt hatten, konnte Nemis den Augenblick nochmal richtig bewusst genießen. Ja, das hatte sie definitiv vermisst. Er tastete sich langsam an ein paar einfache Figuren ran, die Nemis mit viel Spaß ausführte. Die Figuren waren bei jedem Standardtanz irgendwie gleich, nur eben auf einen anderen Grundschritt, von daher musste sie sich zwar ein bisschen anstrengen, alles richtig zu kombinieren, aber es war kein Hexenwerk.
Ihr war nicht entgangen, wie sicher ihr Tanzpartner die Führung ausübte und dazu noch versuchte, sich rücksichtsvoll an ihre Fähigkeiten anzupassen. Das konnte er nur, weil er sicher genug tanzte, um sich selbst aus dem Fokus zu nehmen. Nemis empfand Bewunderung für seine Fähigkeiten und staunte über dieses geheime Talent.
"Alle Achtung, du hast es echt drauf.", gab sie dann neidlos zu. Jedoch lag auch etwas verschwörerisches in ihrem schiefen Grinsen und ihrem frechen Blick.
"Aber mal sehen, ob du den Titel 'Maestro' in dieser Disziplin ebenso verdienst, wie beim Gitarre spielen."
Jetzt würde sie ihn mal etwas testen. Als er gerade ihre Hand leicht weggedrückt hatte und ihr damit zu verstehen gab, dass beide nun rückwärts auseinander tanzen würden, sah sie ihre Chance. An der Führungshand noch immer verbunden, waren sie nun jeweils eine Schrittfolge voneinander entfernt. Der Moment, in dem sie wieder zusammenkommen sollten, war da, doch nach einem Schritt in seine Richtung, verließ sie mit einer Drehung nach außen seine Leitung. Sie würde nicht aus dem Grundschritt ausbrechen, der die beiden Individuen noch immer gemeinsam mit dem Rhythmus in einem musikalischen Schauspiel verband. Aber sie würde neugierig seine Grenzen erproben.


Der Song: https://open.spotify.com/album/5vRtkwA2AZY66h9F2VYc2j?highlight=spotify:track:2WAoShegYKo11YJYcGEo2Y
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